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100 Jahre und kein bisschen müde

geschrieben von: Redaktion am 30.07.2011, 07:16 Uhr
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Samuel Lesched aus Israel reist gerne und machte auch wieder Stopp in Berlin. Am ehemaligen Grenzübergang Deutschland-Polen, nicht weit hinter Görlitz, sagen sich sonst Fuchs und Hase „Gute Nacht“. Aber heute tun sich dort seltsame Dinge: Ein schwarzer Minibus mit Berliner Kennzeichen fährt auf der Raststätte vor und acht Menschen schälen sich langsam aus dem Wagen. Die schillernste Person unter ihnen, ein kunterbunt gekleidetes, quirliges Männchen, ist gerade 100 Jahre alt geworden, heißt Samuel Lesched und ist ein alter Jude auf dem Weg in die polnische Stadt Liegnitz, in der er vor 100 Jahren geboren wurde. Damals gehörte Liegnitz in Niederschlesien noch zu Reichsdeutschland und hatte etwa 70.000 Einwohner. 2.000 davon waren Juden. Man sprach deutsch und betete in der ansehn-lichen Synagoge oder in der Peter-und-Paulskirche und der Liebfrauenkirche.
Begleitet wird das bunte Männchen von einem Fernseh-Team aus Israel, denn Samuel Lesched lebt seit inzwischen mehr als fünfundsiebzig Jahren in Israel, in der Stadt Haifa. Dort und in Tel Aviv ist er als origineller Musikclown und Spaßvogel berühmt. Die meisten kennen seinen Namen nicht - manche kennen ihn unter dem Namen Schmulek - aber alle, die zu Shabat auf der Strandpromenade in Tel Aviv an ihm vorbei spazieren, haben schon über diesen Musikclown gestaunt - und viele haben sich von ihm bezaubern las-sen. Auf einer Quetschkommode mit Glocken und Schellen spielt er Melodien und Lieder aus aller Welt und bringt damit die Menschen zum Lachen. Schön singt er nicht - und eigentlich ist Samuel Lesched eher musikalischer Geräuschemacher als Sänger, der ab-wechselnd gurrt, jauchzt und heiser keucht, jodelt oder andere seltsame Töne von sich gibt. Dann wieder spielt er einen heiteren Tanz und dreht mit seinen 100 Jahren samt Quetschkommode eine schwungvolle Pirouette. Eben ein Musikclown. Und Erfinder eines minutenlangen Jodlers, den er nun auf der Raststätte zwischen Polen und Deutschland zu Gehör bringt. Gehör bringt. Auch hier gilt: Er ist bestimmt nicht der begabteste Jodler der Welt, dafür aber sicher der Un-ermüdlichste.

An Samuel Lesched bimmelt und bammelt es, denn er ist heute wie meistens mit Glocken, Kettchen, Schellen und vielem Gedöns aufgeputzt. Die Dame im Wechselkontor der polnischen Raststätte weiß nicht, wie ihr geschieht, als plötzlich ein betagter Spaßvogel vor ihr steht, sie heiter und unbedarft aus zahnlosem Mund anlacht und schwungvoll seine „Katinka“ auf der Quetschkommode spielt. Am meisten lieben ihn wohl die Kinder, denn sie sind augenblicklich fasziniert von den bunten Federn, knalligen Riesenblumen, Stofftierchen und Ballons, mit denen der riesige Schlapphut, Kleidung und die Quetschkommode geschmückt sind.

Wenig später hat er sich schon mit einem polnischen Ehepaar angefreundet, sie tanzen zusammen zwischen den parkenden Wagen und Lesched zückt sein Bündel selbstgekrakelter - und gemalter Adresszettelchen. „Ich hab Freunde in aller Welt, sagt er. In China, in Armenien In Russland und in Kanada. Kommt mich besuchen, wenn ihr in Israel seid.“ Das Ehepaar schreibt sich in das riesige Bündel gesammelter und zusammengeschnürter Adresszettel ein, das Lesched auf seinen vielen Reisen stets bei sich trägt. Der Abschied ist herzlich.

Angekommen in der Stadt Legnica geht das Fernsehteam mit ihm auf Spurensuche. Die frühere Wohnung der Familie Lesched liegt in der Nähe des Friedhofes, die Straße mit ehemals deutschem Namen trägt heute einen polnischen. War es hier in dieser Straße? Ist es das Wohnhaus? Oder dort? Hausnummer 4, erinnert sich der Alte. Das Viertel wirkt sehr arm und herunter-gekommen, von den Häusern blättert der Putz, eine Gruppe Kinder in schmutziger, zerrissener Kleidung spielt auf der Straße. „Ach, das war früher noch viel ärmer hier“, sagt Schmulek. „Wir hatten nicht mal Schuhe und immer hatten wir Löcher in der Hose. Aber ich hatte trotzdem eine schöne Kindheit.“

Lastwagen donnern auf der Durchgangsstraße ins ehemalige Breslau über Kopfsteinpflaster. Komisch die Vorstellung: als der agile Alte noch ein Kind war, gab es kaum Autos und schon gar keine Lastwagen. Der erste Weltkrieg hatte gerade erst begonnen. „In der Schule haben sie uns gesagt, Krieg ist gut. Wir haben das damals noch nicht richtig verstanden.“

Dann sind die Straße und die Wohnung gefunden. Dort im vierten Stock wohnte in zwei Zimmern die Familie Lesched: sechs Kinder, davon fünf Jungs, ein Mädchen. Schmulek der zweitälteste. Das Klo auf halber Treppe. Hier lebte er, besuchte acht Jahre lang die Volksschule und machte eine Lehre als Dachdecker und Klempner. „Wir sind auf 80 Meter hohe Kirchtürme geklettert“, erinnert er sich an die Zeit.

Während das Filmteam auf russisch mit den Hausbewohnern diskutiert, ob ein Filmen auf dem Dachboden des Hauses möglich ist, schnappt sich der ausgelassene 100-jährige das knallrote Klapprad eines staunenden Kindes und büchst aus. Mit dem Fahrrad schlingert er gefährlich durch die Kopfsteinstraße seiner Kindheit. Die Menschen laufen zusammen und staunen. Bei so viel Publikum steigt der Überlebenskünstler schnell wieder vom Fahrrad, schnappt sich seine Ziehharmonika und bringt sein selbstkomponiertes Lied "Ja, ja der Sonnenschein, schaut zum Fenster rein" zu Gehör.

Lesched gehörte zu den vier jüdischen Familien, die im Viertel als Handwerker arbeiteten, sein Vater hatte sich als Schlosser in der Nachbarschaft einen Namen gemacht. 1934 wurde er verhaftet und es drohte ihm als Juden der Abtransport in ein Lager. Nur weil ihn die zuständigen Beamten gut kannten und schätzten, war es Vater Lesched noch möglich, mit der ganzen Familie und wenigen Habseligkeiten im Gepäck Deutschland schnellstmöglich zu verlassen. Mit der Eisenbahn ging es nach Österreich, von Italien aus reiste die achtköpfige Familie weiter per Schiff nach Palästina.

Das Einleben im neuen Land war für den jungen Mann mit dem kindlichen Gemüt sehr schwer. Er verstand die Sprache nicht, die orientalische Mentalität war ihm fremd, das ungewohnte Klima machte ihm zu schaffen. Er fand keine Arbeit und für die Arbeit die er fand, wurde er unangemessen schlecht bis gar nicht bezahlt.

Trotzdem fallen auch besonders schöne Ereignisse in die Anfangsjahre in Haifa. So lernte er bald seine Frau Ruth kennen, die aus dem schlesischen Hirschberg stammt und bezog mit ihr eine echte Bruchbude, wie er sagt. Mit Ruth teilte er die folgenden 70 Jahre und lebte bis zu ihrem Tod vor einigen Jahren glücklich zusammen. Die beiden haben zwei Söhne und eine Tochter, es gibt zehn Enkel und gerade ist der drei-zehnte Urenkel zur Welt gekommen.

In Berlin interessiert sich nicht nur das israelische Filmteam für den unverdrossenen Musikclown. Er hat hier wie in aller Welt gute Freunde. Bei einer Reise einer Friedenauer Jugendgruppe vor ein paar Jahren nach Israel im Rahmen des deutsch-israelischen Jugendaustausches kam die erste Begegnung mit dieser außergewöhnlichen Persönlichkeit zustande. Inzwischen haben viele Berliner den Musikclown in Haifa besucht, der wiederum bei seinen Reisen nun immer auch in Berlin vorbeischaut. Schmulek hat daher bei seinem jetzigen Besuch in Berlin nicht nur Pressetermine mit Reportern der Berliner Morgenpost und der Welt zu absolvieren, sondern stellt sich ebenso mit gleichem Ernst den Fragen einer Gruppe junger Nachwuchsredakteurinnen des Mädchenladen Spandau, von denen die meisten von ihnen einen arabischen oder türkischem Hintergrund haben.

Hier in Berlin hat Schmulek noch einiges vor. Dass er wegen der Filmaufnahmen am Mittwoch das Herthaspiel gegen Real Madrid im Olympia-Stadion nicht miterleben konnte, ärgert ihn sehr. Wenn „die TV-Banditen“, wie er das Fernsehteam vom israelischen Channel 2 nennt, endlich wieder abgereist sind, wird er sich ein dreistündiges Rockkonzert auf dem Deutsch-Amerikanischen Volksfest gönnen. Dann feierte er mit allen seinen Berliner Freundinnen und Freunden und mit 'Heartbeat Five', der schärfsten Beatband Berlins, eine große Party. Seinen 100sten Geburtstags hat Schmulek schon am 18. Juli auf seiner alljährlichen Reise durchs deutschsprachige Europa im süddeutschen Hohenlohe mit Gästen von über-all her gefeiert. Jetzt war er für zehn Tage zu Gast bei Freunden in Berlin, von wo er am 31. Juli nach vielen Wochen fern von Zuhause den Rückflug nach Israel antrat. Da für 100-jährige jeder Anspruch auf Auslandskrankenschutz erlischt, ist es leider noch ungewiss, ob Schmulek vor seinem 110ten Geburtstag noch 'mal in Berlin sein wird.

Susette Wahren

  
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